M. E.

Zuerst möchte ich Ihnen sagen, dass der Vortrag etwas ausführlicher ist und dass der Heimaufenthalt nicht nur für mich sondern auch für meine im Vincenzheim geborene Tochter Auswirkungen auf unser ganzes Leben hatte, was unweigerlich zusammenhängt.

Mein Name ist M. E. Ich wurde 1943 in H. geboren und war das 6. Kind einer streng katholischen Familie. Meine Mutter starb 1949. Im gleichen Jahr heiratete mein Vater eine Frau, die uns eine gute Mutter war. Aus diese Ehe gingen noch zwei Kinder hervor. Mein Vater war selbstständiger aus Schlachter und später Metzger bei der Bundeswehr. Wie auch zwei Schwestern kam ich mit 14 Jahren in Stellung um die Hauswirtschaft zum erlernen. Ich hatte von Kindheit an eine empfindliche Haut, starken Juckreiz durch Putzmittel. Nach eineinhalb Jahren brach ich die Ausbildung ab und ging wieder nach Hause. Kurz nach meinem 16. Geburtstag verliebte ich mich in einen 24-jährigen kanadischen Soldaten. Ich war sexuell unerfahren. Ende November 1959 bemerkte ich, dass ich schwanger war. Als mein Vater davon erfuhr, schlug er wie von Sinnen auf mich ein und benachrichtigte das Jugendamt.

Noch am gleichen Tag wurde ich in ein Haus für obdachlose Frauen und Mädchen nach Iserlohn gebracht. Heiraten durfte ich nicht. Am 1. März 1960 wurde ich von einem Polizeibeamten und einer Fürsorgerin in ein evangelisches Entbindungsheim nach Soest gebracht. Von da aus dann Anfang April 1969 ins Vincenz-Heim in Dortmund. Ich bekam die obligatorische Heim- Kleidung. Blaukariertes Kleid mit Puffärmeln. Darüber ein Schürze aus gleichem Stoff. Ich kann in die Aufnahme Stationen. Zu Schwester Alexa und Nivella.

Da saß ich nun stundenlang in einer Gruppe von etwa 20 Mädchen und häkelte weiße Batisttaschentücher. Die Nonne saß dabei, passte auf und betete ihren Rosenkranz. Die einzige Abwechslung war, fromme Lieder zu singen, ab und zu im Keller des Morgens stundenlang Kartoffeln schälen. Und Sonntag nachmittags Hofgang in Reih und Glied.Alle paar Wochen kam ein alter Frauenarzt. Er untersuchte uns im Beisein der Schwester. Als ich im achten Monat war, wurde ich ins Krankenhaus zur Untersuchung gebracht. Es war eine Steißlage. Von da an drängte mich die Schwester immer mehr, zur Beichte zu gehen. Ich hatte mich vorher schon geweigert. Deshalb kam ich für einen Tag in die Klabause. Es war eine kleine Zelle mit einer Holzpritsche. Für die Notdurft einen Blecheimer.

Eines Samstag morgens bekam ich einen Zettel und Bleistift, und ich wurde im Schlafsaal eingesperrt. Dort sollte ich meine Sünden aufschreiben. Des Nachmittags dann in Reih und Glied in die Appelle zum Beichten.Als ich an der Reihe war, kniete ich nieder und las vor: „Ich habe Unschamhaftes getan“. Der Priester fragte in welcher Stellung. Da ich nicht wusste was das war fragte ich: „Was ist das?“ Mit den schmutzigsten Ausdrücken erklärte er mir dann, was eine Stellung ist. Einzelheiten möchte ich mir und Ihnen ersparen.. Als ist mir zu viel wurde, lief ich weinend aus dem Beichtstuhl auf dem Flur. Schwester Alexa kam hinter mir her. Sie legten den Arm um meine Schulter und sagte: „Wenn Dir bei der Geburt was passiert, kannst du ohne Sünden vor den Herrn treten“. Ich konnte ihr doch nicht sagen was passiert ist, sie hätte mir nicht geglaubt . In einem 1976/77 umgeschrieben Lied heißt es: „ Pater Fürbaß kommt viermal im Jahr und ist dann für die Beichte da. Der Pfaffe ist ein geiler Bock und schaut den Mädchen unteren Rock.

Am 2. August waren wir des Morgens in der Kapelle. Während der Wandlung war knieen Pflicht. Ich hatte plötzlich einen starken Schmerz im Unterleib und setzte mich hin. Sofort hatte ich Schwester Vincentines spitzen Finger im Rücken und sie sagte: „Hinknieen!“. Etwa 10 Minuten später war der Schmerz wieder war. Ich stand auf und ging aus der Kapelle. Schwester Vincentine kam hinterher und beschimpfte mich. Sie sagte, ich solle auf dem Flur hin und her gehen und ging wieder. Nach einiger Zeit kam der Schmerz wieder. Mir lief Flüssigkeit die Beine runter und der Fußboden war nass. Ich hielt vor Schmerz meinen Bauch und suchte eine Toilette. Aber alle Türen waren verschlossen. Etwas später kamen alle aus der Kapelle raus. Ein Mädchen musste mir einen Eimer mit Wasser, Aufnehmer und Schubber holen, und ich musste alles sauber machen. Etwa um 11 Uhr wurde ich ins Krankenhaus gebracht. Die letzten Minuten vor der Geburt war ich bewusstlos. Sie haben das mir das Kind an den Beinen aus den Körpern gerissen. Um 13:05 Uhr wurde meine Tochter geboren.

Ich nannte sie M., nach meiner verstorbenen Mutter. Im Krankenhaus konnte ich stillen. Nach 10 Tagen wurde ich vom Heim wieder abgeholt. Noch am gleichen Tag wurden wir mit zusammengerollten Windeln die Brüste hoch gebunden und ich musste im Bügel-Saal arbeiten. Des Sonntags durfte ich meine Tochter für eine Stunde sehen. In dem vorhin zitierten Text heißt es dazu: “Und hat ´ne Frau ein Kind bekommen,dann wird es ihr gleich weggenommen, die Kinder werden isoliert, dreimal zum wickeln vorgeführt.”

Bald wurde ich in eine andere Gruppe verlegt. Ich war in sechs verschiedenen Gruppen. Meine Arbeitseinsätze waren im Bügel-Saal, in der Näh-Stube, im Keller Kartoffeln schälen. Täglich der gleiche Trott. In zweier Reihen zur Kapelle, zur Arbeit, einmal wöchentlich Hofgang. Wo uns hohe Mauern daran hindern sollten, auszureissen. Des Samstags baden 10 min. Hygiene war Mangelware. Intimpflege war nicht möglich. Dementsprechend rochen wir auch. Wenn wir unsere Regel hatten, bekamen wir drei Mal täglich gestrickte Baumwollbinden, wo noch Spuren von den Spuren von der Vorbenutzerin dran waren. Wenn ich meine Hände und Arme wegen ständigem Juckreiz blutig gekratzt hatte, bekam ich Teersalbe und im Streifen gerissene alte Bettlaken. Wir mussten täglich bis zu 10 Stunden arbeiten. Samstags bis Mittags. Es gab eine Notensystem. Arbeits-, Fleiß-, Höflichkeits- und Sauberkeitsnoten. Für jede Note 5 Pfennig pro Tag. Bei den geringsten Verfehlungen wurde das gestrichen. Jede Nonne hatte ständig ein Notizbuch bei sich. Da wurde jede Verfehlung notiert. Oft wurden mir die Besuche bei meiner Tochter gestrichen, weil ich Widerworte gegeben hatte oder das Redeverbot missachtete.

Den Teller leer essen war Pflicht. Wir mussten so lange sitzen bleiben bis der Teller leer war. Das Essen war oft mit dicken fetten Schweineschwarten gekocht. Auch wenn die Mädchen schon auf dem Teller erbrochen hatten, der Teller musste leer gegessen werden. Alle paar Wochen wurde in der unteren Etage ein Stand aufgebaut, an dem wir uns Seife, Shampoo, Süßigkeiten, Niveacreme oder eine Haarbürste kaufen konnten. Durch das strenge Notensystem war es mir oft nicht möglich, Shampoo und Seife zu kaufen. Dann musste ich und auch die anderen Mädchen uns die mit Kernseife oder Schmierseife waschen.

Mehrmals haben Mädchen versucht, sich das Leben zu nehmen, oder haben versucht auszureißen. Danach haben wir sie nicht wieder gesehen. Wahrscheinlich haben wir auch Medikamente bekommen. Wenn der Kaffee des Mordens komisch schmeckte und schaumig war, sagten wir: „Jetzt haben wir wieder Hengolin bekommen.“ Nach einigen Monaten hatten viele Mädchen 10 bis 20 kg zugenommen. Zu trinjen gab es nur zu den Mahlzeiten. Auch im Sommer bei der Hitze im Bügel-Saal. Es waren aber nicht alle Schwestern so schlimm wie Alexa und Vincentiene. Schwester Manuela die die Theresien-Gruppe leitete, war nicht so streng und tröstete uns, wenn wir traurig waren. Das Redeverbot nahm sie nicht so genau. Dafür wurde sie von Schwester Vincentine im Beisein der Mädchen gerügt.

Wenn ich meine Tochter besuchte, stand sie und auch die anderen Kinder schaukelnd und mit dem Kopf wackelnd im Bett. Sie waren mit Windeln an den Gitterbetten angebunden. Spielsachen waren kaum vorhanden. Im Herbst 19 und 61 wurde ich nach Allen bei Rühnern verlegt, auf den Strüvernhof. Ein großer Bauernhof der zum Vincenzheim gehörte. Dort musste ich auf dem Feld arbeiten. Kartoffeln auflesen und Runkeln ziehen, im Schweinestall und im Kuhstall arbeiten. Das Heim war Selbstversorger. Denn auch Obst und Gemüse und Salat wurden Saisongemäß geerntet. Zwei civil beschäftigte Frauen brachten die Ware täglich nach Dortmund.

Während dieser Zeit habe ich meine Tochter nicht gesehen. Bei meiner Entlassung war ich 181/2 Jahre alt. Ich habe dann in einer Fabrik gearbeitet in der Elektrogeräte hergestellt wurden. Meinen Lohn musste ich zu Hause abgeben. Damit ich meine Tochter am Wochenende besuchen konnte, putzte ich nach Feierabend die Büroräume. Das Geld bekam ich separat ausgezahlt. Nach etwa acht Wochen habe ich dann einen Platz im Iserohner Waisenaus gefunden. Als ich meine Tochter abholte war sie ein 11/4 Jahr alt. Sie konnte noch nicht alleine laufen. Sie schwankte beim Gehen hin und her. Die Schwester in der Kleinkinder-Abteilung sagte zu mir: „Geh´ mal mit ihr zum Arzt, da stimmt was nicht.“

Das Waisenaus stellte Sie den Kinderarzt Doktor Tigges vor. Die Praxis benachrichtigte mich telefonisch auf meiner Arbeitsstelle. Der Arzt erklärte mir an Hand einer Röntgenufnahme, dass meine Tochter eine doppelseitige Hüftgelenksluktuation hätte, die in seltenen Fällen bei der Geburt vorhanden sei, aber durch die Steißlage und die dadurch komplizierte Geburt begünstigt würde. Sie kam sofort nach Dortmund in die orthopädischen Klinik. Dort wurde sie unter Narkose eingerenkt und lag dann Wochen lang im Gipsbett. Die Ärzte im Krankenhaus sagten mir, die Schäden hätten schon viel früher festgestellt werden müssen, weil diese schäden bei Lageanomalien bekannt seien.

Danach nahm das Waisenhaus in Iserlohn sie nicht wieder auf. Sie kam zurück ins Vincenzheim. Dort blieb sie bis zum 1. November 1963. Einen Tag nach meiner Heirat holten wir sie ab. Es folgten bis zum 12. Lebensjahr drei schwere Operationen. Mit 16 wurden Ihr Schrauben entfernt. Sie ist von Kind an zu 80 Prozent schwerbehindert. Sie war ein sehr schwieriges Kind. Besuchte die Sonderschule. Ich war oft überfordert. Heute weiß ich, dass die ersten Lebensjahre eines Kindes sehr prägend sind. Ich habe immer noch große Schuldgefühle. Vor 13 Jahren sagte sie mir: „Mutti, Du hast mich nie geliebt.“ Seit dem habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Wenn ich mein Leben Revue passieren lasse, hat mich der Heimaufenthalt doch sehr stark geprägt.

Alle Autoritäten sind mir zuwider! Um jede Kirche mache ich einen großen Bogen! Wenn ich einer Nonne oder einen Priester begegne, habe ich sofort negative Erinnerungen an Zwang, Drangal und Demütigung. Meine Kinder habe ich nicht religiös erzogen, aber ihnen Achtung vor Menschen beigebracht. Meine beiden Töchter S. und P. haben Fachabitur und arbeiten in sozialen Berufen. Mein Sohn A. hat Mittlere Reife und ist Einzelhandelskaufmann. Nur bei M. ist viel schief gelaufen. Was ich auf Ihre frühkindlichen Erlebnisse zurückführe.

Vielen Dank


 

Vincenzheim Dortmund