Monika L.

Ich wurde im Januar 1944 geboren. Im Jahr 1950 erkrankten mein Bruder (Jahrgang 1940) und ich, nachdem mein Vater mit offener Lungentuberkulose aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, ebenfalls an Tuberkulose. Auf Anordnung des Gesundheitsamtes wurden wir in eine Heilstätte nach Nettelstedt, der ein Heim der Diakonie angegliedert war, gebracht. Dort habe ich meinen Bruder allenfalls 2 mal von Weitem gesehen, wie mit ihm umgegangen wurde, entzieht sich meiner Kenntnis, da meine Eltern hierzu nicht zu reden bereit waren. Dass aber auch hier etwas vorgefallen ist, ist mit Sicherheit anzunehmen. Leider lebt mein Bruder nicht mehr. Mir selbst ist dort Schreckliches zugestoßen.

Nach der akuten Phase der Erkrankung sollte ich in dem Kinderheim aufgepäppelt werden. Das geschah in einer grausamen Form der Misshandlung. Da ich das angebotene Essen nicht bei mir behalten konnte, wurde ich, wenn ich erbrochen hatte, mit dem Teppichklopfer verprügelt und gezwungen, mein Erbrochenes wieder auf zu essen. Das geschah an einem Tag mehrfach und während meines gesamten Aufenthaltes praktisch Tag für Tag. Ich musste im Vorraum der Toiletten essen. Dort hielt ich den Teller, in dem zwischen meinem Erbrochenem das Essen schwamm auf dem Schoß und musste es unter den Augen der Schwester runterwürgen. Kaum hatte ich es wieder erbrochen, holte diese den Teppichklopfer und prügelte so lange auf mich ein, bis sie erschöpft war. Dann musste ich wieder den Löffel nehmen und das grausame Geschehen nahm seinen Fortgang.

Einmal beschloss man, mich 3 Tage hungern zu lassen, damit ich "Appetit" bekäme. Ich bekam nur Wasser zu trinken. Als ich daraufhin einnässte, wurde ich wieder geprügelt.

Einer Pflegerin fiel beim Baden einmal auf, dass mein gesamtes Gesäß und der Rücken von Hämatomen übersät war. Auf ihre mitleidige Nachfrage hin schämte ich mich so, dass ich sagte, ich wäre gefallen. Da ich des Schreibens nur unzureichend kundig war, und die Briefe nach Hause kontrolliert wurden, hatte ich keine Chance, meinen Eltern von meinem Martyrium zu berichten. So verbrachte ich ein ganzes Jahr unter den Misshandlungen, die  auch in psychischer Form ausgeübt wurden. So wurde mir nachhaltig erklärt, dass ich böse sei, dass der Teufel in mir wohnte. In meinen Alpträumen wähnte ich mich - ein 6-jähriges Kind - als vom Teufel besessen.

Als meine Mutter mich nach einem Jahr abholen durfte, erkannte sie mich nicht wieder. Ich weinte viel, hatte Alpträume und war vollkommen verstört. Vor allem verweigerte ich jegliche Nahrung. Nach langem liebvollem Bemühen erzählte ich von meinem Leiden. Eine Anzeige bei der Diakonie wurde negiert - man wollte mich sogar im darauffolgenden Jahr wieder dorthin bringen. Meine Mutter hat es mit allen Kräften verhindert und liebevoll für uns gesorgt.

Nachdem ich im Jahr 1967 meinen ersten Sohn zur Welt gebracht hatte, erkrankte ich laut Aussage der Ärzte an Magersucht. Es handelte sich jedoch nicht um die bekannte Form der Anorexie - ich habe einfach unter Stress und Ausnahmesituationen regelmäßig das Essen verweigert. Keiner der Ärzte nahm meine Vorgeschichte für bare Münze; sie wurde als unmöglich abgetan.

Als mein 4. Sohn 4 Jahre alt war, wurde ich, da ich wieder bedingt durch Stress- und Ausnahmesituationen (mein 3. Sohn war schwer erkrankt) die Nahrungsaufnahme verweigerte, kurzerhand als suizidgefährdet in eine geschlossene Psychiatrie gebracht und mit Antidepressiva vollgestopft. Diese hatten zwar zur Folge, dass ich unkontrolliert zu essen begann und ebenso unkontrolliert fast 50 Kilo zunahm, aber auch, dass ich völlig verstört und in höchstem Maße suchtgefährdet wieder nach Hause entlassen wurde. Ohne die Liebe und Fürsorge meines Mannes hätte ich diese Phase meines Lebens nicht überstanden.

Inzwischen bin ich 65 Jahre alt, ich bin im Grunde eine glückliche Frau, die sich wieder gefangen hat. Durch regelmäßigen Sport habe ich mein Gewicht mittlerweile im Griff - auch die depressiven Zustände treten nicht mehr auf. Wir haben 4 Söhne und 5 bezaubernde Enkelkinder. Regelmäßig treiben wir gemeinsam Sport (Joggen, Wandern, Radtouren). Aber noch heute kann es passieren, dass ich im Restaurant einen vollen Teller zurückgehen lassen muss, weil ich nicht in der Lage bin, etwas zu essen. Sei es, dass mich irgendetwas erinnert, oder dass der Teller zu voll ist, plötzlich kann ich nicht mehr essen. Die Misshandlungen durch die Diakonissen haben mich insoweit für mein ganzes Leben geprägt und geschädigt - nur dass ich mittlerweile mit den Zuständen besser umgehen kann.

Mit einer Redakteurin der WamS habe ich  einen Gesprächstermin ausgemacht; sie will sich meiner Leidensgeschichte annehmen und sie publik machen.

Ich möchte vor allem Gerechtigkeit! Die Schwestern, die mich misshandelt haben, leben mit Sicherheit nicht mehr. Da sich nun aber der Bundestag mit den Vorfällen in Heimen beschäftigt, möchte ich auch, dass meine Geschichte zur Kenntnis genommen wird. Meine beiden älteren Schwestern können meine Geschichte belegen, da sie meinen Zustand nachdem ich aus dem Heim zurück gekommen war unmittelbar miterlebt haben.